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Call for Papers LIBREAS-Ausgabe 39, 2. Schwerpunkt “Dekolonisierung”

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Abbildung 1: Symbolbild “One Planet, Many Names” von Jordan Engel (20.04.2020); Quelle: https://decolonialatlas.wordpress.com/2020/04/20/one-planet-many-names/ [Zugriff am 26.01.2021]
(The map itself is Pacific-Centered (150°E) and South-Up. It uses the Equal Earth projection, a beautiful equal-area projection developed in 2018. As always, Decolonial Atlas maps can be reused under the Decolonial Media License 0.1. Feel free to print them yourself, and send us your photos of them out in the real world!)

Antirassistisch und/oder dekolonial?

Bibliotheken im Spannungsfeld antirassistischer und kritischer Auseinandersetzung mit dem eigenen kolonialen Erbe

Tritt man in eine Gedächtniseinrichtung wie eine Bibliothek, ein Archiv oder ein Museum, betritt man einen vorgeprägten Raum. Wie und welche Inhalte dort gezeigt werden, ist das Ergebnis umfassender Entscheidungsketten. Diese Entscheidungen basieren auf einem Geflecht von Rahmenbedingungen und Einstellungen der Entscheidenden. Da die Entscheidungen aneinander anschließen, werden sie vererbt, verinnerlicht, bedingen die Regelhaftigkeit der Institutionen. Ein bibliothekarisches Klassifikationssystem mag über die Zeit modifiziert werden. Seine Grundanlage aber bestimmt bereits, ob und wie es modifizierbar ist. 

Die Idee des Wissens und der Ordnung, wie wir sie heute in den Gedächtniseinrichtungen finden und praktizieren, folgt im Prinzip Gestaltungsentscheidungen, die 150 oder 200 Jahre alt sind. Sie wurden in einer Zeit entwickelt, in der Perspektiven auf die Welt, die Menschheit, die Kulturen dominierten und keinesfalls Gleichwertigkeit jenseits europäischer Leitvorstellungen zum Ziel hatte. Sie wurden zu einem Zeitpunkt eines sich entfesselnden, kapitalistischen und kolonialen Expansionsdrangs verfeinert, in dem als positives Ziel galt, sich möglichst viel auf Erde jeweils untertan zu machen. Nationalismus und Imperialismus waren der narrative Rahmen, der die Gesellschaften im Zweifel zu großen Opfern motivieren sollte. Der Lohn waren das Versprechen des Wohlstands einer Kolonialwaren-Konsumkultur und das heimelige Gefühl einer Überlegenheit. Der Preis ist in jedem Schwarzbuch zur Menschheitsgeschichte dokumentiert und sprengt in seiner Dimension und Grausamkeit jede Vorstellungskraft.

Die Welt außerhalb europäischer, christlicher Deutungsmuster bekam in diesen Perspektiven keine eigene Handlungsmacht zuerkannt. Sie wurde objektiviert. Sie wurde etwas, das es zu erkunden, bezwingen, zähmen, kontrollieren, ordnen galt. Ihre Formen des Wissens wurden im besten Fall nachgenutzt, angepasst, dokumentiert. Was nicht passte, wurde ausgeblendet, ignoriert, ausgelöscht. Der Drang, die Welt zu objektivieren und kontrollierbar zu machen, zog sich dominant lange durch das 20. Jahrhundert. Er franste aus, hier und da entwickelten sich Alternativen. Seine Dekonstruktion erfolgte aber bis heute fast nur diskursiv, intellektuell, narrativ. Vieles in den Strukturen ist nach wie vor näher an der Zeit, in der “Völkerschauen” als völlig normal galten, als uns lieb ist. Mehr noch: Im digitalen Raum wiederholen sich genau diese Prozesse. Die Künstliche Intelligenz trainiert mit den tradierten Korpora und übernimmt damit die etablierten Muster. Ein historisches Bewusstsein kennt sie naturgemäß nicht. Und es ist, wie aktuell der Fall Timnit Gebru zeigt, auch bei denen, die über die digitalen Strukturen entscheiden, nicht unbedingt vorauszusetzen. Es ist keine gerade Entwicklungslinie, aber die Randständigkeit ethischer und historischer Reflexion bei der Entwicklung des technisch Machbaren setzt vieles von dem, was wir in öffentlichen Verlautbarungen als für überwunden verkünden, schließlich doch mit zeitgemäßen Mitteln neu auf.

Bibliotheken müssen sich wie alle Gedächtniseinrichtungen und eigentlich alle Institutionen der Frage stellen, wie in ihnen exkludierende, rassistische, aus der Zeit und der Logik des Kolonialismus stammende Muster nachwirken und was dies für ihre Gegenwart bedeutet. Das Ziel der Inklusivität, die diskriminierungsfreie Ausrichtung findet abstrakt weithin Zustimmung. Wenn es gut läuft, werden hier und da Sonderprogramme aufgelegt, die aber teils bereits durch ihren “Sonder”-Status Ein- und Ausgrenzungen in Gestalt einer nun wohlwollenden Diskriminierung reproduzieren. Solange die Entscheidungs- und Steuerungshoheit bei tradierten Akteur:innen und ohne Hinterfragen der scheinbar selbstverständlichen Rahmenbedingungen verbleibt, führt dies nicht zu einer Anerkennung auf Augenhöhe. Man baut Brücken. Aber ist man dabei auch bereit, das Gegenüber als das zu akzeptieren, als das es sich zeigt? 

Wir müssen damit leben, dass wir aus einer bestimmten Entwicklungslogik nicht retrospektiv ausbrechen können. Die Geschichte ist unhintergehbar. Daraus ergibt sich zugleich die Verantwortung, sie differenzierend zu verstehen und aus ihr zu lernen. Wir werden die Gedächtniseinrichtungen nicht retrospektiv dekolonisieren können. Was wir aber als Aufgabe einer engagierten Bibliothekswissenschaft sehen, ist, die Bibliotheken als unsere Bezugsinstitutionen auf die Herausforderungen der Gegenwart hin zu reflektieren und Gestaltungsmöglichkeiten für eine Zukunft zu entwickeln, die sensibel, differenziert und entschieden eine integrative, grundierende, ausgleichende Rolle übernimmt. 

Im Grunde geht es darum, das konsequent zu leben, was man vorgibt zu tun. Dazu zählt, in einem ersten Schritt zu verstehen wo man herkommt und warum man so ist, wie man ist. Es gilt, dafür sensibel zu werden, wie und wo diskriminierende Effekte nach wie vor wirken. Es gilt, verstehen zu lernen, warum sich Teile der Community, die man eigentlich zu repräsentieren vorgibt, nicht repräsentiert fühlen. Wenn die eigenen Denk- und Vorstellungsmuster dekonstruiert werden, bedeutet das nicht, dass man sie komplett verwerfen muss. Aber man wird dann Entscheidungen erklären müssen. Die Verschiebung, die wir aktuell in zahlreichen Diskursen beobachten und die auch dem Bibliothekswesen gut tun wird, führt dahin, dass bisher unhinterfragte Konstellationen der Macht, der Deutung, der Entscheidung, einer ausdrücklichen Re-Legitimierung bedürfen.

Im zweiten Schritt nach der Ent-Selbstverständlichung geht es darum, Alternativen zu denken. Das Gute ist: Es gibt Vorarbeiten. So bietet das postkoloniales Konzept der ‘colonial library’ des kongolesischen Philosophen und Intellektullen V[alentin]- Y[ves] Mudimbe ein Analyseinstrument, um zu (hinter)fragen, ob und wie Bibliotheksarbeit im heutigen Kontext genutzt werden kann, um sich Konzepten einer kolonial-rassistischen Wissensordnung zu widersetzen. Laut Mudimbe bezieht sich das auf alle Texte und epistemologischen Ansätze, die afrikanische Gesellschaften als ein Symbol der Andersartigkeit (otherness) und Unterlegenheit (inferiority) konstruierten (Mudimbe, 1988: 98–134). Wo das erkannt wird, können Schritte unternommen werden, um eine Erst- oder auch Wiederaneignung von alternativen Wissensbeständen einzuleiten, die einen Kontrast zur kolonialen Bibliothek bilden würden. Eine solche Debatte eröffnet die Möglichkeit, über diese Herausforderung zu sprechen und verstehen zu lernen, welche Perspektivwechsel in der antirassistischen Bibliotheksarbeit möglich und notwendig sind. Die Enthomogenisierung unser Vorstellungen von Leitkultur, die Diversifikation von Möglichkeiten, zugleich immer auch die Schaffung und Erhaltung von Optionen für eine wechselseitige Verständigung – das könnte im Kern der postkolonialen, antidiskriminierenden, antirassistischen Bibliothek stehen. Rassismuskritisches Denken und Handeln befähigt uns, die komplexen Verschränkungen von institutionellem und strukturellem Rassismus zu decodieren. Ein uneingeschränkter Humanismus mit dem Ziel einer diskriminierungsfreien Gesellschaft ist eine Utopie. Dieser so nah wie möglich zu kommen liegt in unserer Verantwortung. Das Bewahren und Zeigen von Kultur in ihrer Breite anstatt eines restriktiven Strebens nach Ordnung und Kontrolle könnte Kern der Arbeit von Gedächtniseinrichtungen sein. Überlieferung wird nicht getilgt, aber vernetzt, erklärt und kritisch vermittelt.

Call for Papers 2. Schwerpunkt Ausgabe 39: Fragen

Für die kommende Ausgabe von LIBREAS suchen wir Beiträge, die sich mit der Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft von Gedächtnisorganisationen und Prozessen der Ordnung des Wissens, Diskursen und Wissensträgern aus der Perspektive einer Dekolonisierung auseinandersetzen.

  • Wir suchen die Spuren von Kolonialismus und Rassismen, die sich bis heute in den Strukturen und der Arbeit von Bibliotheken erhalten und die sich möglicherweise in digitalen Wissens- und Kommunikationsstrukturen reproduzieren. 
  • Wir möchten erfahren, wer sich aus welchen Blickwinkeln mit Fragen der Dekolonisierung, der Diversifizierung, der Alterisierung in und von Bibliotheken befasst.
  • Wir suchen Best-Practice-Beispiele für Inklusions- und Öffnungsprozesse.
  • Wir wollen Handlungsoptionen (und Utopien) zur Frage diskutieren, wie die Ordnungsmechanismen von Machtdiskursen durchbrochen werden können und wie epistemische Gewalt in öffentlichen Einrichtungen thematisiert werden kann.
  • Und schließlich möchten wir gern auch die genuine Perspektive der Bibliotheks- und Informationswissenschaft betrachten und fragen, wie informationsethische Modelle, Methoden und Theorien am Schnittpunkt zu postkolonialen Forschungsfragen anwendbar sind.

Einreichungen

Die Redaktion der LIBREAS. Library Ideas, die Gasteditorinnen Gabriele Slezak und Sandra Sparber aus Wien sowie die Studierenden des LIBREAS-Projektseminars am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin sind offen für direkte Einreichungen, aber auch für die Diskussion von Ideen für Beiträge. Formen und Inhalt sind wenig beschränkt, diese Einschränkungen sind in den Hinweisen für Autor*innen (https://libreas.eu/authorguides/) zu finden. Deadline ist der 30. Juni 2021. Kontakt: redaktion@libreas.eu / https://twitter.com/libreas

Eure LIBREAS-Redaktion 

(Berlin, Wien, Hannover, Aarhus, Lausanne, München)


(Dieser Call for Papers entstand im Rahmen des LIBREAS-Projektseminars am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin im Wintersemester 2020/2021 und wurde von Ester Barseghyan, Lina Feller, Katharina Foerster-Kuntze, Fatima Jonitz, Amber Kok, Valentina de Toledo erstellt, begleitet und koordiniert.)


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